Achim, du bist seit 2003, also von Beginn an, im Bereich Forschung an der PHTG tätig. Wie hat sich deine Tätigkeit im Laufe der Zeit entwickelt und verändert?
Praktisch konnte unsere Forschung auf der grünen Wiese starten: ohne Vorgaben, wie die gute, richtige und wichtige Forschung für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung aussehen sollte. Anders als anderorts hatten wir auch keine Nachbaruniversität mit schon etablierten Leitvorstellungen und Vordenker:innen. Es herrschte viel Unternehmungslust. Der Hauptarchitekt der Forschungsabteilung, Ernst Trachsler, sorgte für eine starke Schulentwicklungsforschung. Die Fachdisziplinen Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften brachten ihre Theorien und Methoden hier ein. Das ergab spannende Kooperationsprojekte mit reicher Resonanz im Umfeld. So wurde und ist bis heute der Berufsfeldbezug in unsere Forschungs-DNA eingeschrieben.
Inzwischen sind die PHTG und ihre Forschungen grösser, differenzierter, formaler und auch bürokratischer geworden. Das ergibt mehr Knoten und mehr Maschen in den internen Verknüpfungen der Forschungen untereinander und mit der Lehre in Aus- und Weiterbildung. Das macht alles ein wenig unübersichtlich. Persönlich schätze ich jedoch sehr das Potential für Kreativität und Überraschungen, die in so einem strukturierten Durcheinander stecken.
Das Thema Lebenslauf spielt auch in deinem neuen Buch eine grosse Rolle. Wie kam es zu diesem Thema?
Ein Verleger fragte mich einst, ob ich nicht eine Einführung in die systemtheoretische Bildungssoziologie schreiben wolle. Ich war sofort angetan und stimmte zu — musste dann aber feststellen: Es gab gar keine systemtheoretische Bildungssoziologie, in die ich einfach hätte einführen können. Ich musste sie erst selber schaffen. Das Konzept des Lebenslaufs diente mir dabei als Leitfaden. Mit dem Verhältnis zwischen Biographie, Karriere und Lebenslauf hatte ich mich viel früher, anlässlich meiner Dissertation, schon einmal beschäftigt. Daran und an jüngere Theorieentwicklungen über Kommunikationsmedien konnte ich anknüpfen.
Das jetzt erschienene Buch soll kein Schlusspunkt, sondern ein Startsignal für eine etwas andere Bildungssoziologie sein, als sie bislang in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung bekannt ist (soziale Ungleichheit, kulturelles Kapital, Schule als Funktion und Institution und ähnliches). Ich glaube einfach, mit einer guten Theorie des Lebenslaufs könnten die Diskussionen zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaften vielfältiger und ertragreicher werden. Die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend.
Du beschäftigst dich vor allem mit der Soziologie des Lernens. Welches sind, nach deiner Einschätzung, die relevantesten Ergebnisse in Bezug auf das Schulfeld?
Bislang herrscht die Vorstellung: Es gibt Lernen und es gibt Lehren — und «irgendwie» spielen bei beidem «soziale Faktoren» eine Rolle; Faktoren wie Schichtzugehörigkeit oder Herkunft beispielsweise. Eine Soziologie des Lernens möchte dieses nur scheinbar klare Bild hinterfragen. Beispielsweise beschäftigte sich ein Gemeinschaftsprojekt von Sprachdidaktik und Soziologie intensiv mit den kommunikativen Formen des Spiels, des gemeinsamen Znünis, des Bilderbucherzählens und des Kreises in Spielgruppen. Die Erkenntnisse fliessen schon jetzt in Aus- und Fortbildungen ein und sind bald auch einem grösseren Publikum zugänglich. Die Soziologie des Lernens kann dazu beitragen, solche und viele weitere Phänomene aus Schule, Lehre und Unterricht griffig zu beschreiben und sie so auch dem Berufsfeld vermitteln zu können. In jedem Lernvorgang, sogar im selbstregulierten Lernen, sind soziale Strukturierungen wirksam. Eine Aufmerksamkeit dafür kann anregen, die Schulwirklichkeiten einmal ganz anders zu sehen — und vielleicht auch einmal wieder neu zu denken.
Das Buch «Lebenslauf, Medien, Lernen» von Prof. Dr. Achim Brosziewksi ist im Beltz Juventa Verlag erschienen und unter nachfolgenden Link kostenfrei als PDF einsehbar.